Deindustrialisierung oder Reindustrialisierung?

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22. April 2025

Deindustrialisierung oder Reindustrialisierung?

Lieferengpässe während der Corona-Pandemie und die Modernisierung der Infrastruktur befördern eine Stärkung der heimischen Industrie. Diese Reindustrialisierung fordert aber auch Anleger zum Umdenken auf.

Deutschlands Wirtschaft blutet aus, sagen Kritiker. Sie spielen damit auf die schleichende Deindustrialisierung unseres Landes an. Doch die Kritik ist nur bedingt berechtigt. Dass der Industriesektor in einer modernen Volkswirtschaft an Bedeutung verliert, ist keineswegs ungewöhnlich. Das ist nicht erst seit gestern so und es betrifft nicht nur Deutschland.

In nahezu allen westeuropäischen und nordamerikanischen Volkswirtschaften musste das produzierende Gewerbe, umgangssprachlich auch als „die Industrie“ betitelt, in den zurückliegenden Jahrzehnten Federn lassen. In Deutschland ist dies spätestens seit den 1970er Jahren deutlich sichtbar. Entfielen bis zum Ende der 1960er Jahre noch mehr als die Hälfte der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung auf den industriellen Sektor, ist dieser Anteil bis heute auf etwa 30 Prozent zurückgegangen. Das hört sich nach wenig an, ist es aber nicht. In den USA beläuft sich der Anteil des produzierenden Gewerbes nur noch auf etwa 20 Prozent.

Deutschland blutet aus – diese Behauptung ist also etwas voreilig formuliert. Treffender wäre es vielleicht, von einem „Blutwechsel“ zu sprechen. Während die Industrie an Bedeutung verliert, hat im Gegenzug der Dienstleistungssektor kräftig zugelegt. Heute prägt dieser die deutsche Volkswirtschaft. Mit knapp 70 Prozent übertrifft der Anteil der Dienstleistungsbereiche die anderen Sektoren deutlich.

Produktion wird wieder zurückgeholt

Dennoch: Die Kritik an der Deindustrialisierung ist nicht unberechtigt. Das hat spätestens die Corona-Pandemie offenbart. Da mussten Verkehrsknotenpunkte wie Flugplätze und Häfen geschlossen werden, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Lästige Nebenwirkung war, dass es Deutschland und vielen anderen westlichen Volkswirtschaften auf einmal an Produkten fehlte, die vorzugsweise aus Fernost importiert werden. Die „Lieferengpässe“ nahmen bedrohliche Ausmaße an, es fehlte zum Schluss nicht nur an Medikamenten, sondern sogar an Produkten des täglichen Bedarfs.

Das wäre nicht passiert, wenn wir unsere Sachen, die wir brauchen, bei uns oder zumindest in unseren Nachbarländern produzieren. Nicht von ungefähr ist daher seit Corona die Zurückholung von „industrieller Herstellung“ ein Thema. Das zeigen verschiedene Umfragen. Eine von Capgemini kommt zu dem Ergebnis, dass rund die Hälfte aller großen europäischen und amerikanischen Industrieunternehmen bereits Investitionen getätigt haben, um Produktionen aus dem fernen Ausland zurückzuholen. Etwa drei Viertel der befragten Unternehmen gaben zudem an, an einer langfristigen Reindustrialisierungsstrategie zu arbeiten.

Auch Trump hat Reindustrialisierung ganz oben auf der Agenda

Dieser Trend könnte durch die Wiederwahl von Donald Trump noch verstärkt werden. Er setzt ganz offen auf eine Wiederbelebung der Industrie in seinem Land. „Make America great again“ ist für Trump eng verbunden mit der Schaffung neuer Industriejobs. Um das zu erreichen, ist Trump auch bereit, Handelszölle einzuführen und ausländische Firmen dazu zu zwingen, ihre Produktion in die USA zu verlegen, wenn sie auf diesem Markt verkaufen wollen.

Es gibt noch eine Entwicklung, die einer Reindustrialisierung in die Karten spielt. Das ist der Umstand, dass es in nahezu allen westlichen Volkswirtschaften einen großen Nachholbedarf an Infrastruktur gibt. Straßen und Brücken sind vielerorts marode, Schulgebäude und Krankenhäuser verfallen. Es fehlt an digitalen Kommunikationswegen ebenso wie an Eisenbahnschienen. Bis zu 600 Milliarden Euro an Investitionen in den kommenden zehn Jahren in die Infrastruktur fordern Experten allein für Deutschland. Auf das Jahr umgerechnet entspräche die Summe einer Versechsfachung der aktuellen Ausgaben. Eine finanzielle Herausforderung, keine Frage, aber vor allem auch eine Herausforderung an die Industrie. Straßen, Brücken, Schienen, Kommunikationswege und Gebäude müssen „in Handarbeit“ renoviert, modernisiert und neu gebaut werden. Dafür braucht es die klassische Industrie, die Rohstoffe wie Kupfer verarbeitet und Bauprodukte herstellt – und das in enormen Mengen. Ohne eine Reindustrialisierung keine Erneuerung der Infrastruktur – so einfach kann es manchmal sein.

Umbau auch im Aktiendepot

Eine Reindustrialisierung der deutschen Wirtschaft hätte auch starke Auswirkungen auf den Aktienmarkt und würde Anleger zu einem Umdenken zwingen. Neben Technologie mehr „Handfestes“, Produkte zum Anfassen, Infrastruktur und Bau. Gewinner einer solchen Renaissance gibt es viele, auch wenn sie in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht mehr so im Fokus standen.


Gastautor Dr. Markus C. Zschaber ist Gründer der V.M.Z. Vermögensverwaltungsgesellschaft in Köln, www.zschaber.de