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Steigt die Pflegebedürftigkeit wirklich explosionsartig?

Jahr für Jahr treten Menschen in den Status der Pflegebedürftigkeit ein. Das ist kein Geheimnis. Doch für 2023 wurde angeblich ein „explosionsartiger“ Anstieg verzeichnet. Was hat es damit auf sich?

Die Anzahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland ist im Jahr 2023 deutlich höher gestiegen als erwartet. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zeigte sich alarmiert über den „explosionsartigen“ Anstieg der Pflegebedürftigkeit. Darüber berichtet unter anderem das Informationsportal der Deutschen Rentenversicherung, ihre-vorsorge.de.

Laut Prognosen aus dem Bundesgesundheitsministerium hätte der demografisch bedingte Zuwachs lediglich bei etwa 50.000 Personen liegen sollen. Doch real betrug die Zahl der neu Pflegebedürftigen mehr als 360.000. Diese Differenz wirft Fragen auf, denn es gibt verschiedene Sichtweisen. Erst einmal zeigen diese Zahlen die akuten Probleme der Pflegeversicherung. Zumal Statistik-Experten nach wie vor von einer steigenden Pflegebedürftigkeit in Deutschland ausgehen.

Professor Heinz Rothgang von der Universität Bremen widerspricht jedoch den Darstellungen des Bundesgesundheitsministers. Seinen Berechnungen zufolge ist jährlich eher mit einem Zuwachs von etwa 250.000 Pflegebedürftigen zu rechnen. Dieser Wert liegt zwar auch unter den 360.000 tatsächlichen Fällen. Dennoch ist diese Zahl wahrscheinlich deutlich näher an der Realität. Experten sehen eine mögliche Erklärung für den raschen Anstieg der Pflegefälle in den Spätfolgen der Corona-Pandemie begründet. Long-Covid oder anderweitige Nachwirkungen erhöhen ebenfalls den Pflegebedarf. Doch Lauterbach hält es für unwahrscheinlich, dass diese Faktoren allein den extremen Anstieg erklären. Vielmehr vermutet er einen „Sandwich-Effekt“. Das bedeutet, die Babyboomer-Generation und ihre Eltern werden gleichzeitig pflegebedürftig. Dies wiederum führt(e) zu einem überproportionalen Anstieg an Pflegebedürftigkeit.

Medizinische Fortschritte einerseits, Fachkräftemangel andererseits

Die Zukunft der Pflege hierzulande wird vor allem durch zwei Aspekte geprägt. Einerseits haben medizinische Erfolge dazu geführt, dass Menschen nach schweren gesundheitlichen Krisen, Krankheiten oder Unfällen länger leben und dadurch langfristig pflegebedürftig werden. Dies betrifft eben auch schon jüngere Menschen. Sie benötigen dann viele Jahre oder gar Jahrzehnte Betreuung und Pflege. Andererseits gehen viele Pflegekräfte in Rente. Selbst Rekordzahlen bei der Pflegeausbildung reichen nicht aus, um den wachsenden Bedarf zu decken. Somit bringt die Zahl der Neuzugänge in den Pflegeberufen kaum einen Nettozuwachs bei der Deckung eines absehbar anwachsenden Pflegebedarfs.

Ernüchternde Prognosen

Die Prognosen zur zukünftigen Entwicklung der Pflegebedürftigkeit basieren auf Daten des Statistischen Bundesamts (Destatis). Diese berücksichtigen verschiedene demografische Szenarien und Pflegequoten. Generell sieht es ernüchternd aus, was durch Pflegebedürftigkeit in den kommenden Jahrzehnten auf uns zukommt. Bei einer moderaten demografischen Entwicklung könnte die Zahl der Pflegebedürftigen von fünf Millionen Ende 2021 auf 6,9 Millionen bis zum Jahr 2070 steigen. Sollte die Pflegequote innerhalb der nächsten Jahre allerdings noch stärker zunehmen, könnten schon im Jahr 2035 rund 6,3 Millionen Menschen pflegebedürftig sein. In diesem Fall würde die Zahl bis 2055 auf rund 7,6 Millionen ansteigen.

Herausforderungen für das Pflegesystem bleiben

Der erwartete oder eben auch (so) unerwartete Anstieg der Pflegebedürftigkeit stellt das Pflegesystem vor erhebliche und bleibende Herausforderungen. Die bestehenden Strukturen reichen nicht aus, um einen wachsenden Bedarf zu decken. Die häusliche Pflege etwa muss massiv ausgebaut und finanziell alimentiert werden. Pflegeinnovationen brauchen eine gezielte Förderung. Die finanzielle Belastung für die Pflegeversicherung wächst. Auch Lauterbach betont, dass das jetzige Beitragssystem das Leistungsniveau der Pflege nicht aufrechterhalten kann. Eine umfassende Finanz- beziehungsweise Beitragsreform wird immer notwendiger. Ob diese allerdings in der aktuellen Legislaturperiode noch angestrebt wird, ist aufgrund der Kürze der Zeit und verschiedener Positionen innerhalb der Koalition eher unwahrscheinlich.